Am Samstag, dem 8. November, versammelten sich am späten Nachmittag fast 50 Menschen in der Marburger Straße vor dem Haus Nummer 11, um gemeinsam einer Gedenkveranstaltung beizuwohnen.
Der Ort dieser Zusammenkunft war bewusst gewählt: Bis Anfang 1939 stand auf diesem Grundstück die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Neustadts, die ein bedeutendes Symbol für das jüdische Leben und die Geschichte der Stadt darstellte.
Stadtarchivarin Andrea Freisberg informierte zunächst über die Geschichte der 1887 errichteten Synagoge, die bereits 1888 Ziel eines antisemitischen Anschlags wurde. Sie beschrieb aber auch, wie die jüdische Gemeinde über lange Phasen in Neustadt ausgesprochen angesehen war und wertgeschätzt wurde. Dies war nicht zuletzt an der Jubiläumsfeier zum 25. Bestehen im Jahr 1912 abzulesen. Eine Zeitung berichtete damals begeistert, dass die ganze Stadt festlich geschmückt war und alle gemeinsam im Deutschen Haus feierten.
Auch 1932, nach Abschluss einer grundlegenden Renovierung des baufällig gewordenen Gotteshauses, nahmen viele namhafte Vertreter der Stadt und des Kreises an der Weihezeremonie teil. Die Neustädter Zeitung schloss ihren Artikel über dieses bedeutende Ereignis mit den Worten: „Sämtlichen mitwirkenden Meistern gereicht das vollendete herrliche Werk zur größten Ehre.“
Wie sehr sich die Stimmung wenige Jahre später gewandelt hatte, machte Andrea Freisberg in ihrem weiteren Vortrag eindrücklich deutlich. Sie schilderte, wie die SA und die HJ, so wie auch in anderen umliegenden Ortschaften, bereits am 8.11. die Initiative ergriff und zu einem Umzug aufrief. In dieser Nacht, so Freisberg, zog eine aufgeheizte Menge von ca. 250-300 Menschen marodierend durch Neustadts Straßen, warf die Fensterscheiben in jüdischen Häusern ein und misshandelte ihre jüdischen Mitbürger. Etliche Neustädter drangen in die Synagoge ein, zerstörten die Inneneinrichtung und setzten Teile davon in Brand. Einer Feuersbrunst entging das Gotteshaus nur, weil das umliegende Häuser gefährdet hätte, schloss die Stadtarchivarin.
Nur wenige Monate später hatte die Stadt das Grundstück mitsamt dem Gebäude erworben und veranlasste kurz darauf den Abriss der Synagoge, weil sie das Stadtbild störe. In den folgenden Jahren, so berichtete die Stadtarchivarin abschließend, sei das Grundstück in zwei Parzellen aufgeteilt und verkauft worden. Die neuen Besitzer errichteten dort ein Wohn- und ein Geschäftshaus.
Im Anschluss an die Rede von Andrea Freisberg ergriff Herr Bürgermeister Thomas Groll das Wort. Er stellte in seiner Ansprache heraus, wie wichtig es sei, an die Geschehnisse der Reichspogromnacht zu erinnern - gerade heute. Die Taten am 8. und 9. November 1938 seien Vorboten des Holocaust gewesen. Die Juden in Deutschland, auch in Neustadt, hätten großes Leid erfahren müssen.
Groll verwies darauf, dass man sich in unserer Kommune erst spät mit den Jahren der NS-Herrschaft auseinandergesetzt habe, dies aber dafür nun sehr nachdrücklich tue. Er nannte die "Bank der Erinnerung" auf dem Rathausplatz, die Verlegung von Stolpersteinen, die Lesung aus dem "Kriegstagebuch" von Johannes Keppler, das Gedenken am 27. Januar (Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus) und nun diese Veranstaltung anlässlich der Pogromnacht.
Der Dank des Bürgermeisters galt Stadtarchivarin Andrea Freisberg und den sie begleitenden Arbeitskreis sowie der Martin-von-Tours-Schule.
Thomas Groll rief zu Toleranz und einer Gesellschaft mit Menschlichkeit und Solidarität auf. Er mahnte dazu, die Werte des Grundgesetzes zu verteidigen und für Demokratie einzutreten.
Abschließend stellte er den 9 November als Schicksalstag der deutschen Nation dar:
9.11.1918 - Rücktritt des Kaisers/Ende des I. Weltkrieges - Veränderung
9.11.1938 - Reichspogromnacht - Schande
9.11.1989 - Fall der Berliner Mauer - Aufbruch
Dieser Tag, so der Bürgermeister resümierend, sei stetige Erinnerung an die Bedeutung der Demokratie für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland.
Anschließend gedachten die Anwesenden mit einer Schweigeminute des hier vor so vielen Jahren begangenen Unrechts. Die Mitglieder des Arbeitskreises hatten die Form eines Fensters, das sich über der Eingangstür der Synagoge befunden hatte, mit brennenden Kerzen nachgestellt, was wesentlich zur würdigen Stimmung beitrug.
Den Abschluss der Veranstaltung bildete das von Kerstin Richter-Broska wunderbar vorgetragene Lied „The Rose“ von Bette Midler, in dem es um die Saat geht, aus der eine Rose erwächst.